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Der Verrat des Konditors (Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.10.2003)
Glück - Suhrkamp, 2003
Der Verrat des Konditors
Dummheit als Fluch: György Konráds Kindheitserinnerungen
Berettyóújfalu im Rumpfkomitat Bihar - das ist der Schauplatz von "Glück", dem Kindheitsbuch des 1933 geborenen Schriftstellers György Konrád. Es ist eine jüdische Kindheit vor dem Hintergrund der politischen Verfinsterung. Ungarn war nach dem Ersten Weltkrieg auf ein Drittel seiner vormaligen Größe geschrumpft und deshalb für Revanchegelüste empfänglich: "Um die Rückgabe eines Teils der getrennten Gebiete erwirken zu können, trat die ungarische Regierung an der Seite der Deutschen in den Krieg ein und fand sich bereit, eine halbe Million Juden in deutsche Todeslager zu liefern. Ein schlechtes Geschäft: Am Ende gingen nicht nur die Juden verloren, sondern auch die Gebiete, und es blieb die Schande, die nicht jeder empfindet."
Das Schöne an diesem Buch: Es verbindet zwei Erzählweisen. Da ist die Lakonie, mit der mörderische Ereignisse knapp berichtet und pointiert kommentiert werden. Zugleich geht es aber auch um eine Suche nach der verlorenen Zeit, mit vielen beglückenden Details, nicht nur für das erinnernde Ich, sondern auch für den Leser. Konráds Kindheitswelt ist eine ländlich-kleinstädtische Idylle mit verspätetem k. u. k. Charme: Wir lesen vom Fußballspiel unter Kirschbäumen im Sommer und vom Kachelofen mit knisterndem Feuer im Winter, vom alten Gaul Gyurka, der den Leiterwagen zieht, und vom Kutscher András, dessen "braungebrannte, anschwellende Bizepse" dem Jungen mächtig imponieren. Von kindlicher Erotik, also von der "wilden Baba Blau, deren dicken, dunklen Zopf anzufassen und daran ein bißchen zu ziehen ein Genuß war". Und nicht zuletzt von den schönen Details des bürgerlichen Wohlstands, wie dem Eßtisch mit der eingebauten Klingel. Damit das Mädchen in der Küche weiß, wann es den nächsten Gang auftragen darf.
Konráds Vater ist "der größte Steuerzahler" der Gemeinde, Besitzer eines Eisenwarengeschäfts, wo nicht nur um Waren gefeilscht, sondern auch "jovial krakeelt und gescherzt" wird. Ob Pflugschar oder Bratpfanne, Fuhrwerksachse oder Jagdwaffe - es ist eine Welt der guten, gediegenen Dinge, die hier auf gute, gediegene Käufer warten. Zwischen Juden und Nichtjuden herrscht in Berettyóújfalu friedliches Nebeneinander: Im Kino "waren die linken Logen den jüdischen Bürgern vorbehalten, die rechten den christlichen Herren. Sie zogen die Hüte, nickten sich mit unterschiedlichen Gefühlen zu, waren ein wenig abgesondert voneinander, dennoch aber im selben Saal."
Nun muß es nicht immer das pure Lesevergnügen sein, wenn sich alte Herren an ihre schönen Jugendjahre erinnern, die mit dem wachsenden Abstand immer nur noch schöner werden. Hier aber ist die gute, alte Zeit vom ersten Satz an tödlich bedroht, und das verleiht den Beschreibungen des normalen Lebens vor 1941 ihre schmerzliche Schönheit. Der Elfjährige erlebt, wie der Vater - im Verdacht, ein englischer Spion mit geheimem Radiosender zu sein - von der Gestapo abgeholt wird und die Menschen im Dorf beklommen zusehen: "Auf den Gesichtern Verständnislosigkeit, dann allmähliches Einordnen: Ach so, nun holen sie die Juden ab, nun ist es soweit."
Denunziert wurde der Vater von einem ortsansässigen Konditor, was sich im nachhinein als großes Glück herausstellte. Die Eltern kamen ins Internierungslager der Gestapo und dorthin, wo bald darauf fast alle Juden der Gegend ermordet und zu Asche verbrannt wurden. Der Junge flüchtet im Juni 1944 nach Budapest, um in der großen Stadt unterzutauchen. Keinen Tag zu früh, denn am nächsten schon werden die Juden von Berettyóújfalu nach Auschwitz deportiert. Glücklich entkommen, versteckt er sich in Budapest in einem Haus, das unter dem Schutz des Schweizer Konsuls Carl Lutz steht: "In einer Wohnung im dritten Stock wohnten wir an die achtzig Menschen in zwei Zimmern und einer Diele."
Leichen habe Konrád in diesen Monaten zur Genüge gesehen. "Daß auch ich unter ihnen sein würde, konnte ich mir vorstellen, und das war ein unangenehmes Gefühl, doch derartiges Phantasieren wurde durch das, was einem der Alltag abverlangte, überdeckt, in der Gefahr wird der Mensch praktisch. In Wirklichkeit wird er mit der Möglichkeit des Todes nur wenige Augenblicke konfrontiert, beispielsweise dann, wenn ihm eine Pistole an die Stirn gehalten wird. Dann spürt er, ja, das ist es, das ist jetzt möglich." Es kam durchaus vor, daß Konrád die Pistole an die Stirn gehalten wurde. Menschen zu jagen und "in die Donau schießen", das war für die ungarischen "Pfeilkreuzler" das Wintervergnügen 1944/45. So geschah es auch Konráds Cousine Klara. Als neben ihr die Tante schon tot ins kalte Flußwasser gesackt war und die Reihe an sie selbst kam, wurde der Mann am Gewehr jedoch von der eigenen Gutmütigkeit übermannt: ",Du hast Glück, daß mein Magazin leer ist', sagte er und lachte ziemlich freundlich. ,Mach schnell, daß du wegkommst, und sei schön brav daheim.'" Glück - immer wieder das Glück, haarscharf verschont zu werden.
Im Frühjahr 1945 kehrt Konrád zurück ins Elternhaus. Die russischen Befreier haben es leergeplündert und eine Badewanne voll Kot hinterlassen. Die meisten Juden der Gegend sind tot, überlebt haben einige jüngere Männer, die nicht ins Gas, sondern zur Zwangsarbeit geschickt wurden. Sie bringen langsam ihre kleinen Läden wieder in Gang. Die totale Verstaatlichung des Jahres 1950, die auch das Kleingewerbe und den Hausbesitz betraf, bedeutet für die jüdische Gemeinde von Berettyóújfalu die endgültige Auslöschung. "Die Synagoge wird heute als Eisenwarenlager genutzt, die Rede war von der Errichtung eines Konzertsaals, aber daraus ist nichts geworden." Man denkt an Tismas "Buch Blam", wo es immerhin zum Konzertsaal gereicht hat.
Für die Väter, deren Frauen und Kinder tot sind, ist der Anblick des überlebenden Konrád ein zwiespältiges Erlebnis: "Ich spürte, daß ihnen mein Überleben den Tod der Ihren ins Bewußtsein rief. Einer von ihnen fragte mich: ,Weißt du, daß du anstelle der anderen lebst?'" Überleben anstelle der anderen: Die hierin liegende Verpflichtung bestimmt nicht nur die Werke Konráds - und insbesondere ein Buch wie dieses -, sondern auch sein couragiertes Engagement, das ihn im kommunistischen Ungarn Repressalien aussetzte und später im Westen zur Präsidentschaft des PEN und der Berliner Akademie der Künste führte.
Auch ein weiteres zentrales Motiv des Aufklärers und skeptischen Moralisten wird in einer Passage von "Glück" offengelegt. Der Elfjährige wundert sich über sein deutsches Kindermädchen, das ihn, den kleinen Juden, "allmorgendlich so lieb badet", dann aber mit Inbrunst den Radioreden Hitlers lauscht - also eigentlich nur das Schlechteste für ihn will. "Hilda ist zwar schön, aber offensichtlich dumm. Sehr früh schon habe ich entschieden, daß all das, was mich bedroht, eine Dummheit sein muß . . . "
Das klingt vielleicht herablassend, ist es aber nicht. Denn der Dummheit kann man abhelfen, man kann es zumindest versuchen. Die bedrohlichen Dummheiten aus der Welt zu schaffen - darum geht es Konrád in seinem hartnäckigen Engagement gegen die Diktatoren dieser Welt. Es wirkt auch deshalb überzeugend, weil dieser Autor nicht den literarischen Feinsinn zugunsten von Schlagworten und Abstraktionen aufgegeben hat. Er ist ein bedeutender Schriftsteller geblieben, "Glück" stellt es eindrucksvoll unter Beweis.
WOLFGANG SCHNEIDER
György Konrád: "Glück". Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 156 S., geb., 19,90 [Euro].