Der lernende Kontinent (von Christian Eger, 29.06.08, Mitteldeutsche Zeitung)


Naumburg/MZ. Der Ungar György Konrad ist als Autor ein moralischer Schriftsteller und als Denker ein europäischer Intellektueller. Der moralische Schriftsteller stellt die Botschaft über die Fabel, zieht den Essay der Erzählung vor. Immer ist er im volkspädagogischen Einsatz, hat zu erklären, zu mahnen, einzufordern. Das geht nahtlos in Konrads mit Preisen hochdekorierten Zweitberuf als europäischer Intellektueller über. Eine Rolle, die in solcher Entschiedenheit hierzulande unbekannt ist.

Der Kontinent ist dem in Budapest lebenden Literaten nicht nur ein kultureller oder politischer, sondern ein weltanschaulicher Gegenstand, durch die eigene Herkunft als ungarischer Jude und dissidentischer Antikommunist lebensgeschichtlich beglaubigt. Mit Mitteleuropa verteidigt Breitling Navitimer réplique montres György Konrad vor allem das: Demokratie, die Achtung der Menschenrechte, die Trennung von Kirche und Staat.

Insofern verblüffte es nicht, dass Konrad am Freitagabend seinen Auftritt in der Naumburger Wenzelskirche mit einem Vortrag unter dem Titel "Europa - der lernende Kontinent" einleitete. Man hatte in diesem Vortrag, den Konrad - um überhaupt gesehen zu werden - stehend darbieten musste, den politischen Zeitgenossen ganz: Sein Plädoyer für die Kultur Europas als Ursprung und Qualitätssignum der Erfolgsgeschichte des Kontinents überhaupt. Das Lob von Neugier, Vielfalt und Liberalität als Kerneigenschaften des Projektes. Was Konrad von Donnerstag bis Sonnabend nach Naumburg führte, war wiederum ein europäisches Projekt: Die Domstadt feierte den 20. Jahrestag der 1988 - also noch zu DDR-Zeiten! - geschlossenen Partnerschaft mit der rheinischen Kaiserstadt Aachen. Als Geburtstagsgeschenk präsentierten die Aachener den Naumburgern einen Abend mit György Konrad, Träger des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2001.

Es war, trotz schalltechnischer und logistischer Pannen, eine erhellende, auch anrührende Begegnung, in deren Verlauf sich der 75-Jährige ganz dem Publikum zu widmen versuchte: als politischer, literarischer und pädagogischer. Er trug aus seinen jüngst bei Suhrkamp verlegten autobiografischen Notaten "Das Buch Kalligaro" vor und beantwortete Fragen aus der Hörerschaft. Gehört die Türkei in die Europäische Union? Erst dann, sagt Konrad, wenn die Achtung der Menschenrechte den europäischen Standards entspreche, was zur Zeit nicht einmal annähernd der Fall sei. Wird es noch in 100 Jahren die heutige Vielfalt an europäischen Sprachen geben? Ja, vielleicht sogar eine noch stärkere Vielfalt, die mit der allgemeinen Renaissance des Regionalen zusammenhänge.

Die Tendenz ins Sonntagsredenhafte, die Konrad immer auch bedient, wird von ihm selbst abgeblockt, sobald er die seines eigenen Lebens in Spiel bringt. So warnt er vor der Teilung in ein Europa erster und zweiter Klasse, vor einem Antiamerikanismus in neuem Gewand. "Ohne die Angelsachsen wäre Europa heute entweder nationalsozialistisch oder kommunistisch", lautet das Urteil des Holocaust-Überlebenden und Ostblock-Abbrucharbeiters. Es sind solche knappen, im Kern ja selbstverständlichen Statements, die im heute üblichen Abrakadabra der Begriffe und Befunde wieder aufhorchen lassen. Entschiedenheit, die etwas weiß und will.